Grundlagen moderner Geldpolitik II

Nachdem wir die grundsätzlichen Zusammenhänge zwischen Geschäfts- und Zentralbanken verstanden haben, wird es in diesem zweiten Abschnitt zur Geldpolitik zunächst um die Instrumente einer Zentralbank gehen, die sie verwendet, um den angepeilten Zinssatz im Interbankenmarkt auch durchzusetzen. Da sich dieser Zinssatz auch auf den Zins auswirkt, den die Banken für Kredite an den Privatsektor verlangen, beeinflusst die Zentralbank so den Preis für Kredite. Sie tut dies um die Inflationsrate zu stabilisieren. Steigt diese in einem Aufschwung zu stark an, soll eine Zinserhöhung die Kreditaufnahme verteuern und somit die Investitionen  reduzieren. Dies soll die Wirtschaft abkühlen und so den Preisanstieg dämpfen. Fällt die Inflation hingegen unter das gewünschte Zielniveau, soll eine Zinssenkung die Investitionen anregen, um so die Wirtschaft aus der Krise zu führen.

Moderne Zentralbanken ähneln sich in der praktischen Ausgestaltung ihrer Geldpolitik.  Im Folgenden werden daher exemplarisch die geldpolitischen Instrumente der Europäischen Zentralbank (EZB) skizziert, welche ein Inflationsziel von knapp unter, aber nahe bei 2 % verfolgt. Andere Zentralbanken besitzen aber ähnliche Instrumente, weshalb die Analyse durchaus übertragen werden kann.1 Viele der hier verwendeten Beispiele sind abermals dem Lehrbuch von Dirk Ehnts (2016) entnommen.

Die wichtigsten geldpolitischen Instrumente der EZB, die ihr erlauben, Einfluss auf die Zinsen im Geschäftsbankensektor zu nehmen, sind in Tabelle 5 zusammengefasst. Die bereits erwähnte Mindestreserve sowie die sogenannte Eigenkapitalquote der Banken sind Vorgaben, die nur sehr selten verändert werden und daher nicht zum Alltagsgeschäft der Zentralbanken gehören. Daher sind sie in der Tabelle nicht aufgeführt.

Tabelle 5: Überblick regelmäßig genutzter geldpolitischer Instrumente

\begin{tabular}{L{7cm}L{7cm}} \toprule \multicolumn{1}{c}{\textbf{OFFENMARKTGESCHÄFTE}}& \multicolumn{1}{c}{\textbf{STÄNDIGE FAZILITÄTEN}}\\ \multicolumn{1}{c}{\textbf{(Initiative geht von der Zentralbank aus)}} & \multicolumn{1}{c}{\textbf{(Initiative geht von der Bank aus)}}\\ \midrule Hauptrefinanzierungsgeschäfte &Spitzenrefinanzierungsfazilität\\ Längerfristige Refinanzierungsgeschäfte&Einlagefazilität\\ Feinsteuerungsoperationen&\\ Strukturelle Operationen&\\ \bottomrule \end{tabular}

Mindestreserven gelten landläufig als wichtiges regulierendes Instrument der Zentralbanken, weil man damit die Geldschöpfung im privaten Bankensektor begrenzen könne. Dies basiert aber auf der falschen Vorstellung über den Geldschöpfungsprozess, die man aus der Theorie des Bankenmultiplikators ableitet. Dieser Theorie folgend benötigt eine Geschäftsbank zunächst einmal Reserven der Zentralbank, um hiermit zusätzliche Kredite zu schöpfen. In der Realität ist die Kausalität aber ganz anders: Banken vergeben zunächst Kredite, schaffen so Einlagen und kümmern sich erst danach um die Beschaffung der notwendigen Reserven. Dies geschieht über den Interbankenmarkt oder über die Zentralbank, die ihr jederzeit die notwendigen Reserven zur Verfügung stellt, solange Sicherheiten ausreichender Bonität vorhanden sind. Da Banken sogar die erste Tranche eines Kredites als Sicherheit hinterlegen können, stellt die Mindestreservehaltung offensichtlich kein Mittel zur Begrenzung der Geldschöpfung dar. Viele Länder haben die Mindestreserve daher bereits abgeschafft. Bevor wir die Möglichkeiten und Grenzen verschiedener geldpolitischer Maßnahmen analysieren, werden die folgenden Abschnitte zunächst die unterschiedlichen Instrumente grob skizzieren.

Geldpolitische Instrumente I: Offenmarktpolitik

Die sogenannten Offenmarktgeschäfte stellen die wichtigsten Instrumente aus Sicht der Zentralbank dar, die Banken mit Reserven zu versorgen. Bei den Offenmarktgeschäften geht die Initiative der Maßnahme von der Zentralbank aus, die so die Geschäftsbanken entweder mit Zentralbankgeld versorgt oder ihnen Zentralbankgeld entziehen möchte:

  • Hauptrefinanzierungsgeschäfte (HRG; englisch: Main Refinancing Operation, MRO): wöchentliches Offenmarktgeschäft mit einwöchiger Laufzeit. Banken leihen sich Zentralbankgeld gegen Hinterlegung von Sicherheiten zum Hauptrefinanzierungszinssatz, auch Leitzins, (englisch main refinancing rate) der EZB. Gilt als wichtigstes Instrument (daher auch Haupttender genannt).
  • Längerfristige Refinanzierungsgeschäfte (LRG; englisch: longer-term refinancing operation, LTRO), auch längerfristige Offenmarktgeschäfte: Die so genannten Basistender werden einmal monatlich mit dreimonatiger Laufzeit durchgeführt. LTROs können aber auch unregelmäßig angewendet werden, wie zum Beispiel 2011/12, als mit der sogenannten „dicken Bertha“ im großen Volumen Liquidität zum Hauptrefinanzierungszinssatz mit einer Laufzeit von mehreren Jahren geschaffen wurde. Grund dafür war eine Vertrauenskrise im Interbankenmarkt, wodurch sich die Banken untereinander kein Geld mehr geliehen haben. Die lange Laufzeit der LTROs soll den Fristenunterschied zwischen den Laufzeiten von Verbindlichkeiten und Forderungen der Banken verringern. In der Regel haben Banken langfristige Forderungen (Kredite an den Privatsektor), denen sehr kurzfristige Verbindlichkeiten (z.B. in Form von Sichteinlagen) gegenüberstehen. Reserven stellen aus Sicht der Banken kurzfristige Forderungen (Guthaben) dar, die jederzeit für den Zahlungsverkehr zur Verfügung stehen.
  • Feinsteuerungsoperationen: Unregelmäßige, nicht standardisierte Operationen, die dazu dienen, kurzfristige und unerwartete Schwankungen der Bankenliquidität zu vermeiden (z.B. kurzfristige Kreditvergabe, Ankauf von Termineinlagen oder zeitlich befristeter Ankauf von Devisen (Devisenswap)).
  • Strukturelle Operationen: Unregelmäßige, nicht standardisierte Operationen, die den langfristigen Bedarf nach Zentralbankgeld sichern sollen, um die Wirksamkeit der geldpolitischen Maßnahmen zu sichern. Dies kann zum Beispiel durch Verkauf von Schuldverschreibungen gegen Zentralbankgeld erreicht werden, da so die Menge an Zentralbankgeld im Bankensektor dauerhaft gesenkt wird und die Geschäftsbanken wieder mehr Bedarf haben, sich bei der Zentralbank Reserven zu leihen.

Zeitlich befristete Kredite der Zentralbank werden in der Eurozone als repurchase agreement (repo) vergeben. In diesem Fall wird das Eigentumsrecht für die Sicherheit für die Laufzeit des Kredites der Zentralbank übertragen und die Bank verpflichtet sich, sie zu einem vorher festgelegten Preis zurückzukaufen. Der Preis setzt sich aus dem Wert der Sicherheit und dem entsprechenden Zins zusammen. Bei einer strukturellen Operation können Wertpapiere auch endgültig („outright“) gekauft werden. Die wichtigsten Offenmarktgeschäfte sind eindeutig die Hauptrefinanzierungs- sowie die längerfristigen Refinanzierungsgeschäfte.

Offenmarktgeschäfte werden i.d.R. als Versteigerungsverfahren durchgeführt und nur selten als bilaterales Geschäft. Haupt- und Basistender sind standardisiert und werden daher auch Standardtender genannt (Abwicklung innerhalb weniger Tage). Feinsteuerungsoperationen werden dagegen Schnelltender genannt, da die Geschäftsabwicklung innerhalb von 90 Minuten erfolgt.2 Seit der Finanzkrise wendet die EZB ein Verfahren mit vollständiger Zuteilung an, um den Liquiditätsproblemen seit der Euro-Krise entgegenzuwirken. Derzeit wird in der Eurozone also auch über die Offenmarktgeschäfte jede Höhe von Reserven bereit gestellt, solange genügend Sicherheiten von ausreichender Bonität vorhanden sind.

Geldpolitische Instrumente II: Ständige Fazilitäten

Eine Fazilität (lateinisch facilitas = ‚Leichtigkeit‘) ist im engeren Sinne eine Kreditmöglichkeit. Die EZB räumt den Geschäftsbanken die Möglichkeit ein, sich bis zum nächsten Geschäftstag entweder Reserven zu leihen (Spitzenrefinanzierungsfazilität, englisch marginal lending facility) oder zu verleihen (Einlagefazilität, englisch deposit facility). Der Spitzenrefinanzierungszinssatz ist höher und der Einlagzinssatz niedriger  als der Hauptrefinanzierungszinssatz. Wie wir in Kürze sehen werden, bilden diese Zinsen einen Korridor für den Interbankenzins. Fazilitäten gehören zu den Instrumenten, bei denen die Initiative vom privaten Bankensektor ausgeht. Banken können bis zu einer halben Stunde nach Schließung des Interbankenmarktes Reserven von der Zentralbank gegen Hinterlegung von Sicherheiten bekommen oder überschüssige Reserven bei der Zentralbank parken. Überschüsse auf dem Reservenkonto werden dann zum Einlagesatz verzinst.

Wieso ist es aber überhaupt möglich, dass die Banken Reserven von der Zentralbank benötigen, wo sich empfangene und getätigte Überweisungen doch immer zu Null addieren müssen? Die im Markt befindlichen Reserven wurden zum Teil über Kredite der Zentralbank geschaffen. Laufen diese aus, brauchen Banken Reserven, um ihre Schuld bei der Zentralbank zurückzuzahlen. Sind nicht genügend Reserven im Markt, um auslaufende Kredite zu begleichen, werden einige Banken darauf bestehen, ihren Saldo in Reserven gezahlt zu bekommen und keinen Zahlungsaufschub per Kredit gewähren, da sie sich andernfalls neue Reserven bei der Zentralbank leihen müssen, um ihre alte Schuld zu begleichen. Sind nicht genügend Reserven im Markt, werden einige Banken gezwungen sein, sich einen neuen Kredit bei der Zentralbank zu nehmen, um entweder ihren Saldo im Interbankenmarkt auszugleichen oder aber ihre alten Schulden bei der Zentralbank zu begleichen.

Schauen wir uns den Vorgang des Zahlungsausgleichs im Interbankenmarkt noch einmal genauer an. Schöpft eine Bank Giralgeld über einen Kredit, so entstehen Einlagen in gleicher Höhe. Werden diese Einlagen nun abgehoben oder überwiesen, so erleidet die Bank einen entsprechenden Abfluss von Reserven. Gehen wir von 2 Banken mit folgenden Bilanzen aus (wie diese entstanden sein mögen ist für dieses Beispiel von keiner Bedeutung):

 \begin{tabular}{cc} \begin{tabular}[t]{p{3 cm}R{0.8cm}|p{3cm}R{0.8cm}} \multicolumn{4}{c}{\textbf{A}\hfill\textbf{Bank 1}\hfill\textbf{P}}\\ \hline Kredite & 100 & Einlagen & 100 \end{tabular} {~~} \begin{tabular}[t]{p{3 cm}R{0.8cm}|p{3cm}R{0.8cm}} \multicolumn{4}{c}{\textbf{A}\hfill\textbf{Bank 2}\hfill\textbf{P}}\\ \hline Kredite & 100 & Einlagen & 100 \end{tabular} \end{tabular}

Nun tätigen Kunden von Bank 1 Überweisungen auf Konten der Kunden von Bank 2 und umgekehrt. Am Ende des Geschäftstages entsteht ein Saldo in Höhe von 50 Euro den Bank 1 an Bank 2 überweisen muss. Für den Zahlungsausgleich zwischen den beiden Banken benötigt Bank 1 nun Reserven auf ihrem Konto bei der Zentralbank, damit diese auf dem Zentralbankkonto von Bank 2 gutgeschrieben werden können. Bank 1 könnte sich hierzu über Nacht zum Spitzenrefinanzierungszinssatz Reserven bei der Zentralbank leihen. Nehmen wir an, der Spitzenrefinanzierungszinssatz beträgt 1 %. Die Bilanzen der Banken ändern sich entsprechend:

 \begin{tabular}{cc} \begin{tabular}[t]{p{2.9 cm}R{0.8cm}|p{2.9cm}R{0.8cm}} \multicolumn{4}{c}{\textbf{A}\hfill\textbf{Bank 1}\hfill\textbf{P}}\\ \hline Kredite & 100 & Einlagen & 100\\ Reserven&50&Kredit (ZB, 1\%) & 50 \end{tabular} {~~} \begin{tabular}[t]{p{2.9 cm}R{0.8cm}|p{2.9cm}R{0.8cm}} \multicolumn{4}{c}{\textbf{A}\hfill\textbf{Bank 2}\hfill\textbf{P}}\\ \hline Kredite & 100 & Einlagen & 100 \end{tabular} \end{tabular}

Durch den Zahlungsausgleich werden die Reserven von Bank 1 um 50 € vermindert und die von Bank 2 um 50 € erhöht. Die Bilanzen sehen nach diesem Vorgang wie folgt aus:

 \begin{tabular}{cc} \begin{tabular}[t]{p{2.9 cm}R{0.8cm}|p{2.9cm}R{0.8cm}} \multicolumn{4}{c}{\textbf{A}\hfill\textbf{Bank 1}\hfill\textbf{P}}\\ \hline Kredite & 100 & Einlagen & 50\\ \sout{Reserven}&\sout{50}&Kredit (ZB, 1\%) & 50 \end{tabular} {~~} \begin{tabular}[t]{p{2.9 cm}R{0.8cm}|p{2.9cm}R{0.8cm}} \multicolumn{4}{c}{\textbf{A}\hfill\textbf{Bank 2}\hfill\textbf{P}}\\ \hline Kredite & 100 & Einlagen & 150\\ Reserven (0,2\%)&50&& \end{tabular} \end{tabular}

Nehmen wir an, Bank 2 benötigt die zusätzlichen Reserven nicht, um Überweisungen an andere Banken zu tätigen. Die Überschussreserven werden dann lediglich mit der Einlagefazilität auf dem Reservenkonto der Zentralbank verzinst. Diese wird deutlich unter dem Spitzenrefinanzierungszinssatz liegen. Wir gehen davon aus, dass der Zins der Einlagefazilität 0,2 % beträgt.

Dadurch, dass sich die Überweisungen zwischen den beiden Beispielbanken nicht zu Null addieren, hat Bank 2 nun also einen Reserveüberschuss, der auf ihrem Reservenkonto gelagert und mit 0,2 % verzinst wird. Durch die Zinsdifferenz zwischen Spitzenrefinanzierungs- und Einlagezins entsteht eine Option, von der beide Banken profitieren könnten. Bank 1 könnte sich nämlich zu einem Zinssatz, der zwischen 0,2 % und 1 % liegt, die Reserven von Bank 2 leihen. In diesem Fall würden sich beide Banken besser stellen, da Bank 1 nun weniger als den Spitzenrefinanzierungszinssatz zahlt und Bank 2 mehr als den Einlagezins erhält. Nehmen wir an, die Banken einigen sich auf einen Zinssatz von 0,5 % (das ist der sogenannte Interbankenzins, daher mit IB gekennzeichnet). Gewähren die Banken sich einen Kredit sehen die Bilanzen wie folgt aus:

 \begin{tabular}{cc} \begin{tabular}[t]{p{2.9 cm}R{0.8cm}|p{2.9cm}R{0.8cm}} \multicolumn{4}{c}{\textbf{A}\hfill\textbf{Bank 1}\hfill\textbf{P}}\\ \hline Kredite & 100 & Einlagen & 50\\ &&Kredit (IB, 0,5\%) & 50 \end{tabular} {~~} \begin{tabular}[t]{p{2.9 cm}R{0.8cm}|p{2.9cm}R{0.8cm}} \multicolumn{4}{c}{\textbf{A}\hfill\textbf{Bank 2}\hfill\textbf{P}}\\ \hline Kredite & 100 & Einlagen & 150\\ Kredit (IB, 0,5\%)&50&& \end{tabular} \end{tabular}

Da sich die Salden zwischen den Banken immer zu Null addieren müssen, wäre es also theoretisch möglich, dass Banken den Zahlungsverkehr vollständig ohne zusätzlichen Reservenbedarf unter sich regeln. Tatsächlich ist der Zahlungsausgleich über gegenseitige Kreditvergabe nach Gründung der EZB anteilsmäßig angestiegen. In der Regel findet eine solche Kreditvergabe innerhalb eines gewissen Rahmens zwischen solventen Banken automatisch statt. Als Sicherheiten für die Kredite werden meistens Wertpapiere hinterlegt. Erst wenn dieser Kreditrahmen ausgeschöpft ist, wird eine längerfristige Lösung angestrebt.

Sollten die Überweisungen zwischen den Geschäftsbanken sehr asymmetrisch verteilt sein, werden die Salden, die man ausgleichen muss, sehr groß werden. Der Reservebedarf hängt daher von der Varianz der Überweisungen zwischen den Banken ab. Ist dieser im Vergleich zum Bestand im Interbankenmarkt hoch, wird die Kreditvergabe zwischen den Banken stark ansteigen müssen, wenn keine Bank zusätzliche Reserven von der Zentralbank leihen will. Da bei steigender Kreditvergabe auch das Risiko steigt, dass diese nicht zurückgezahlt werden können, und das Vertrauen gegenüber den Banken sinkt, die sich viele Reserven borgen, werden sich die Geschäftsbanken dieses Risiko über einen höheren Zinssatz bezahlen lassen. Weil Reserven knapp sind, steigt der Preis für Kredite im Interbankenmarkt.

Da Banken sich zudem jederzeit Reserven gegen Vorlage von genügenden Sicherheiten ausreichender Bonität zum Spitzenrefinanzierungszinssatz bei der Zentralbank leihen können, bildet dieser die Obergrenze für den Zinssatz im Interbankenmarkt. Keine Bank würde sich Reserven im Interbankenmarkt leihen, wenn sie diese bei der Zentralbank günstiger bekommen würde. Aus den selben Gründen bildet der Einlagezinssatz die Untergrenze für Kredite auf dem Interbankenmarkt, weil keine Bank einen Reserveüberschuss zu einem geringeren Zins verleihen würde als ihr die EZB bietet.

Die Zinssätze für Spitzenrefinanzierungs- und Einlagefazilität bilden daher einen Korridor für den Zins im Interbankenmarkt. Abbildung 13 verdeutlicht dies und zeigt die Entwicklung der drei Zinssätze sowie den Tagesgeldzinssatz im Interbankenmarkt. Letzerer wird durch den sogenannten Euro Overnight Index Average (EONIA) dargestellt. Dieser Zinssatz ist ein berechneter Durchschnittssatz, der auf Basis tatsächlicher Kredite im Übernachtgeschäft von 30 Banken ermittelt wird.3 Wie wir sehen, liegt der Hauptrefinanzierungssatz der EZB zwischen Spitzenrefinanzierungs- und Einlagezinssatz. Der Tagesgeldzins (auf dem Interbankenmarkt) liegt ebenfalls zwischen diesen beiden Sätzen und schwankt um den Hauptrefinanzierungszinssatz. Da die EZB in ihren wöchentlichen Hauptrefinanzierungsgeschäften den Banken Geld zum Hauptrefinanzierungszinssatz leiht, ist es nicht verwunderlich, dass der Interbankenzins sich in der Nähe dieses Zinssatzes bewegt.

Abbildung 13: Zinssätze am Interbankenmarkt
Anmerkung: Für den Tagesgeldzinssatz wurde ein monatliches Mittel des EONIA gebildet. Quelle: Bundesbank.

Sollten Reserven im Interbankenmarkt knapp sein, werden Banken die Zinsen für Übernachtkredite verteuern. Weil die Zentralbank aber eine Zinssteuerung verfolgt und der Tagesgeldzinssatz nun von ihrer Zielrate abweicht, wird die EZB zusätzliche Reserven in den privaten Bankensektor bringen wollen, damit der Zinssatz wieder auf das gewünschte Niveau sinkt. Die Zentralbank könnte dies zum Beispiel erreichen, indem sie die Zuteilung der Reserven in ihren Tenderverfahren entsprechend erhöht. Da sich Banken mit negativem Saldo nun wieder Reserven zum günstigeren Zins bei der EZB leihen können, wird die Reservemenge im Interbankenmarkt ansteigen, die Anzahl der Kredite zwischen den Banken auf dem Interbankenmarkt zurück gehen und die Banken werden ihre Zinsen für Übernachtkredite wieder senken.

Wir sehen, dass die EZB nach Ausbruch der Finanzkrise in 2008 begonnen hat, alle drei Zinssätze zu senken, um Kredite günstiger zu machen und so die Investitionen anzuregen. Aber wieso fällt der Interbankenzins zu dieser Zeit auf die untere Grenze des Einlagenzinssatzes? Banken bekamen Angst, dass ihre Geschäftspartner aufgrund der Finanzkrise die Übernachtkredite nicht mehr zurückzahlen würden und haben ihre Überschussreserven lieber auf dem Konto der Zentralbank zum Einlagezins geparkt. Damit Banken nicht in Liquiditätsprobleme kommen, hat die EZB dann in sehr großen Mengen Reserven in den Interbankenmarkt gebracht, um eine Liquiditätskrise zu verhindern und die Stabilität des Bankensystems zu sichern. Seit der Finanzkrise werden Mengentender mit voller Zuteilung verwendet. Das bedeutet, dass Banken sich wöchentlich unbegrenzt Reserven zum Hauptrefinanzierungszinssatz leihen können. Dies haben Banken seit der Finanzkrise vielfach genutzt. Um den Interbankenmarkt zu umgehen, leiht man sich die Reserven von der Zentralbank, die man dann als Vorrat auf den Reservekonten hält. Die Zentralbank hat so zeitweise den Interbankenmarkt ersetzt und der Reserveüberschuss hat den Tagesgeldzinssatz an die Untergrenze gedrückt. Dies ist besonders deutlich, nachdem in 2011/12 die Zentralbank mit längerfristigen Refinanzierungsgeschäften im großen Volumen die Liquidität im Bankensektor erhöht hat. Da Reserven nun im Überfluss vorhanden sind, sinkt der Preis für Reserven auf den Einlagezins.

Seit dem 11. Juni 2014 ist die Einlagefazilität negativ und der Hauptrefinanzierungssatz beträgt seit dem 16. März 2016 Null Prozent. Banken können sich also unbegrenzt mit Liquidität versorgen, ohne dafür einen Zins zahlen zu müssen, sie zahlen aber eine Art Strafe, wenn sie überschüssige Reserven horten. Mit dieser Maßnahme versucht die EZB zuallererst, den Zinssatz langfristiger Wertpapiere zu drücken, um langfristige Investitionen attraktiver zu machen. Die Argumentation, Banken würden hierdurch mehr Kredite vergeben, weil sie andernfalls einen Strafzins auf Reserven zahlen müssen, ist hingegen fragwürdig. Zur Kreditvergabe braucht es ja auch einen willigen und kreditwürdigen Kreditnehmer. Die höheren Kosten der Banken könnten auch zu steigenden Zinsen führen, die sogar einen negativen Effekt auf die Kreditnachfrage hätten.

Wettbewerb im Bankensektor, Kreditgewährung im Gleichschritt und die Nachfrage nach Ersparnissen

Eine offensichtliche Frage, die sich nach dem vorangegangenen Abschnitt stellt, ist die Frage nach der Beschränkung der Kreditschöpfung im privaten Bankensektor. Banken können jederzeit über Nacht unbegrenzt Reserven bekommen und die Zentralbank interveniert, sobald der Zins von ihrem Zielwert abweicht. Wenn selbst die Mindestreserve offensichtlich keinen besonders disziplinierenden Einfluss auf die Kreditvergabe hat, könnte man geneigt sein zu glauben, dass Banken immerfort Kredite im Überfluss schaffen werden. Zunächst einmal sei daran erinnert, dass eine Bank nur in dem Umfang Reserven von der Zentralbank leihen kann, wie sie Sicherheiten ausreichender Bonität vorweisen kann. Banken, die einen großen Teil schlechter Kredite in ihren Bilanzen haben, können sich eben nicht mehr problemlos bei der Zentralbank mit Reserven versorgen. Zudem muss auch eine Nachfrage nach Krediten vorhanden sein, um sie zu schöpfen.

Schauen wir uns noch einmal ein Beispiel an. Eine Bank schöpft einen Kredit von 100 €, der von einem Unternehmen zur Begleichung einer Rechnung auf das Konto einer anderen Bank überwiesen wird. Die Bank hat sich bereits über die Offenmarktoperationen der Zentralbank mit Reserven zum aktuell gültigen Zinssatz von 1 % versorgt. Welchen Zins sollte die Geschäftsbank für den Kredit wählen? Bei der Kreditvergabe entstehen in gleicher Höhe zu verzinsende Einlagen. Zudem muss die Bank für die Reserven, die zur Überweisung der geschöpften Einlagen notwendig wären, 1 % als Zins zahlen. Sie wird daher einen höheren Zins verlangen, um keine Verluste zu machen, wenn der Kunde seine Einlagen verwendet. Die Differenz zwischen dem Kreditzins der Geschäftsbank und dem Zins für Kredite der Zentralbank (bzw. auf die Einlagen der Kunden) beeinflusst die Gewinnspanne der Bank. Da Banken in Konkurrenz zueinander stehen, kann die Bank aber auch keine allzu hohen Zinsen nehmen, weil der Kunde ansonsten den Kredit ggf. bei einer anderen Bank nimmt und ihr der Gewinn vollständig abhanden kommt. Nehmen wir an, die Bank verlangt einen Aufschlag von 2 %, um ihre Kosten zu decken und einen hinreichenden Gewinn zu erzielen, der das Einkommen der Mitarbeiter und Anteilseigner darstellt. Der Kreditzins beträgt dann 3 %.4

Was wird nun passieren, wenn die Zentralbank ihren Leitzins anhebt, sagen wir auf 5 %? Wenn die Kredite bei der Zentralbank auslaufen, müssen die Geschäftsbanken selbige erneuern oder sich Liquidität im Interbankenmarkt leihen, solange sich die Positionen auf der Aktivseite ihrer Bilanz nicht ändern. Die Zentralbank steuert aber den Interbankenzins und wird mit ihren geldpolitischen Instrumenten dem Bankensektor gerade soviel Reserven entzogen haben, dass dieser nun ebenfalls 5 % entspricht. Die Bank wird für den Kredit jetzt mehr als 5 % nehmen müssen, um weiterhin einen Gewinn zu erwirtschaften. Legen wir wieder die 2 % Gewinnaufschlag zu Grunde, so beträgt der Kreditzins nun 7 %. Vermutlich wird dies dazu führen, dass die Nachfrage nach Krediten zurückgeht. Wenn die Banken aber keine Interessenten für Kredite mehr finden, können sie auch keine zusätzlichen Kredite schöpfen. Durch die Zinssteuerung beeinflusst die Zentralbank also die Kreditnachfrage und somit auch das Kreditangebot.

Ein weiterer disziplinierender Faktor ist die Tatsache, dass mit zunehmender Kreditvergabe das Risiko eines Kreditausfalls steigt. Eine Bank weiß, dass grundsätzlich ein Teil ihrer Kredite nicht zurückbezahlt wird, und berücksichtigt dies in ihrem Gewinnaufschlag. Wenn dieser Anteil bei höherer Kreditmenge steigt, muss auch der Gewinnaufschlag steigen, wenn die Bank ihren Gewinn halten möchte. Ein solcher Anstieg wird sich ebenfalls negativ auf die Kreditnachfrage auswirken. Daher wird die Bank ihre Kreditvergabe nicht unbedacht ausweiten.

Die Konkurrenz im Bankensektor hat einen weiteren disziplinierenden Effekt. Sollte eine einzelne Bank nämlich deutlich mehr Kredite vergeben als andere, so braucht diese Bank in der Regel auch mehr Reserven. Die Kredite werden vermutlich verwendet, um Rechnungen von Geschäftspartnern mit Konten bei anderen Banken zu begleichen. Wenn eine Bank mehr Kredite schöpft als andere, ist zu erwarten, dass sie mehr Überweisungen zu anderen Banken tätigt als sie von anderen Banken erhält. Da diese Bank sich nun mehr Reserven leihen muss, sind ihre Zinskosten höher als die der Konkurrenten. Die Bank müsste dies bei ihrer Kreditvergabe berücksichtigen und einen höheren Gewinnaufschlag verlangen als andere. Dies wird sogar noch verstärkt, wenn die höhere Kreditvergabe für sich genommen schon zu einem Risikoaufschlag führt. Der Wettbewerbsnachteil gegenüber den Konkurrenten, der hierdurch entsteht, ist selbstverständlich nicht im Interesse der Bank. Bei Refinanzierung über den Interbankenmarkt würden zudem die Kosten der anderen Banken sinken, da sie über Kredite an diese Bank zusätzliche Zinseinnahmen erzielen.

Es entsteht durch den Wettbewerb also ein gewisser Anreiz, Kredite im ähnlichen Umfang zu schöpfen. Man nennt dies auch eine Kreditschöpfung im Gleichschritt. Aus Tabelle 4 konnten wir entnehmen, dass es keinen vorher festgelegten Zusammenhang zwischen Reserven und Einlagenmenge gibt. Der Bedarf nach Reserven richtet sich vielmehr danach, wie unterschiedlich die Zu- und Abflüsse der Einlagen sind, also an den auszugleichenden Salden. Sollten alle Banken gleichzeitig gleich viel Kredit schöpfen und die Kunden der Banken in exakt gleicher Höhe Überweisungen auf Konten anderer Banken tätigen wie von Kunden anderer Banken Überweisungen eingehen, so entstehen keine Salden und somit auch kein Bedarf nach zusätzlichen Reserven. Lediglich eine ggf. vorgegebene Mindestreserve würde einen zusätzlichen Bedarf erzeugen. Da Mindestreservesätze sich aber im unteren Prozentbereich bewegen (oder bereits ganz abgeschafft wurden), ist dieser gering.

Ein völliger Gleichschritt ist natürlich höchst unwahrscheinlich. Wenn während einer Spekulationsblase aber alle Banken dazu neigen, ihre Kreditvergabe auszuweiten, weil die Ansichten überoptimistisch sind, können die auszugleichenden Salden und damit der zusätzliche Reservebedarf trotz immenser Kreditausweitung sehr gering sein. Eine Zinserhöhung der Zentralbank hat in diesem Fall nur eine schwache Auswirkung, weil nur wenige Reserven benötigt werden und die Mindestreserve von vielen Zentralbanken ja sogar noch zum Hauptrefinanzierungszinssatz verzinst wird.5

Die bisherigen Ausführungen haben alle gezeigt, dass Ersparnisse aus dem Privatsektor bei der Kreditschöpfung überhaupt keine Rolle spielen. Warum wollen Banken dann überhaupt Ersparnisse, wenn diese nicht weiterverliehen werden können?6 Banken versuchen zum Teil mit Lockangeboten wie Gutscheinen oder Bargeld Kunden von anderen Banken abzuwerben. Wozu der Aufwand, wenn man Ersparnisse gar nicht benötigt?

Der Grund ist ganz einfach: Werden Konten einer Bank aufgelöst und bei einer anderen Bank eröffnet, müssen die Einlagen überwiesen werden. Dies kann eine Bank in Schwierigkeiten bringen, wenn sie nicht genügend Reserven hat, um ggf. einen Saldo auszugleichen. Zudem würden bei der Überweisung die Reserven auf dem Zentralbankkonto der Empfängerbank erhöht werden. Anstatt zusätzliche Reserven bei der Zentralbank zum Hauptrefinanzierungszinssatz zu leihen, bekommt man so zusätzliche Reserven zum geringeren Zins für Kundeneinlagen. Eine Bank, die Kundeneinlagen von anderen Banken abwirbt, erlangt also einen Vorteil gegenüber den anderen Banken. Da Banken in Konkurrenz zueinander stehen, werden alle Banken versuchen, einen möglichst großen Vorteil gegenüber den anderen zu erlangen.

MERKE
  • Die Versorgung des privaten Bankensystems mit Reserven erfolgt über Offenmarktgeschäfte (Initiative geht von der Zentralbank aus) oder ständige Fazilitäten (Initiative geht von der Geschäftsbank aus).
  • Geschäftsbanken können sich (gegen die Vorlage einer Sicherheit ausreichender Bonität) jederzeit Reserven über Nacht bei der Zentralbank leihen.
  • Die Mindestreserve spielt eine untergeordnete Rolle und liegt in vielen Ländern derzeit bei Null Prozent.
  • Der Hauptrefinanzierungszinssatz (Leitzins) ist der Zinssatz für die wöchentlichen Offenmarktgeschäfte der Zentralbank.
  • Die Zinssätze der Zentralbank für Spitzenrefinanzierungs- und Einlagefazilität bilden einen Korridor für den Zinssatz im Interbankenmarkt.
Übungsaufgaben/Quizzes

Literatur

DE GRAUWE, P. (2012). Economics of Monetary Union, Oxford University Press.
EHNTS, D. (2016). Geld und Kredit – eine €-päische Perspektive, Metropolis, 2nd ed.

 

Grundlagen moderner Geldpolitik I

Ein modernes zwei-stufiges Geldsystem besteht aus Geschäftsbanken, die Buchgeld schöpfen können, und einer Zentralbank, die Reserven schöpfen kann. Nicht-Ökonomen unterliegen häufig der falschen Vorstellung, ein solches System hätte man zunächst gedanklich entwickelt und dann umgesetzt. In Wirklichkeit ist es aber so, dass sich dieses System zunächst entwickelt hat, bevor man begonnen hat, selbiges zu analysieren und zu verstehen. Nach den schlechten Erfahrungen mit einem rein privaten Geldsystem, in dem jede Geschäftsbank ihre eigenen Banknoten ausgibt, von denen niemand im Vorfeld sagen kann, in welchem Tauschverhältnis man die Noten einer Bank mit denen einer anderen tauschen sollte, entstanden im 18. Jahrhundert die ersten Zentralbanken. Zentralbanken sind so was wie die Banken der Geschäftsbanken, da sie diese mit Zentralbankreserven versorgen. Diese Reserven werden von Geschäftsbanken vor allem deswegen benötigt, um den Zahlungsausgleich zwischen unterschiedlichen Geschäftsbanken zu bewerkstelligen. Wie der Zusammenhang zwischen Zentral- und Geschäftsbanken im Detail aussieht, wird Bestandteil dieses Abschnitts sein. Eine ausführlichere Abhandlung, die sich für Einsteiger eignet, findet sich zudem in dem Buch von Dirk Ehnts (2016).

Über die Entwicklung moderner Zentralbankpolitik

Die Theorie moderner Zentralbankpolitik geht auf die Werke von Thornton (1802), Bagehot (1898) und Wicksell (1898) zurück. Ulrich Bindseil, Generaldirektor für Marktgeschäfte der Europäischen Zentralbank (EZB), beschreibt in Bindseil (2014) die Entwicklung der Geldpolitik seit dem 19. Jahrhundert. Entgegen der weit verbreiteten Meinung, eine Zentralbank würde die Geldmenge bestimmen, haben bereits vor 1914 Zentralbanken den Zins und nicht die Geldmenge gesteuert. Da Geschäftsbanken Giralgeld bei einer Kreditvergabe aus dem Nichts schöpfen und die Menge an Einlagen durch die Nachfrage nach Krediten bestimmt wird, kann die Zentralbank eine vollständige Kontrolle der Geldmenge in einem modernen Geldsystem auch gar nicht durchsetzen.

In der Zeit nach 1914 wurde die Geldpolitik der meisten Zentralbanken dennoch offiziell als Geldmengensteuerung bezeichnet und von der sogenannten „Reserve Position Doctrine“ geprägt. Diese ging im Sinne der Monetaristen, einer ökonomischen Denkschule, davon aus, dass Inflation immer als ein monetäres Phänomen zu begreifen sei. Um die Inflation zu kontrollieren, bedürfe es daher einer Steuerung des Zentralbankgeldes (der sogenannte Reserven). Würde man aber tatsächlich die Geldmenge steuern, würde dies zu stark schwankenden Zinssätzen führen, wie wir im Abschnitt zum Interbankenmarkt noch lernen werden. Dies wäre für das Investitionsklima einer Volkswirtschaft fatal, weil Unternehmen unter diesen Umständen nicht einmal in der Lage wären, einzuschätzen, wie hoch die Kosten für eine Kreditaufnahme in der nahen Zukunft seien werden. Aus diesen Gründen haben Zentralbanken ihre Vorgaben für die Entwicklung der Geldmenge i.d.R. auch verfehlt. Heutzutage hat sich die Zinssteuerung auch offiziell durchgesetzt: Eine Zentralbank glättet den Zins im sogenannten Interbankenmarkt und stellt jederzeit genügend Reserven zur Verfügung, um diesen Zinssatz durchzusetzen.1

Auch der sogenannte Geldschöpfungsmultiplikator, der einen konstanten Zusammenhang zwischen Reserven der Zentralbank und Giralgeld der Geschäftsbanken unterstellt und viele Jahrzehnte lang die Standarddarstellung der Geldschöpfung in nahezu jedem makroökonomischen Lehrbuch repräsentierte, entspricht keiner realistischen Darstellung. Der Geldschöpfungsmultiplikator geht letztlich davon aus, dass Banken zunächst Einlagen oder Reserven benötigen, um einen Kredit zu vergeben. So entstand der Mythos, dass Banken Ersparnisse verleihen würden, ein Ding der Unmöglichkeit, weil die Einlagen ihrer Kunden für eine Bank ja eine Verbindlichkeit darstellen. Banken würden eine Mindestreserve der Einlagen ihrer Kunden halten und den Rest weiter verleihen und so die Giralgeldmenge vervielfachen. Merkwürdigerweise gibt es in vielen Ländern inzwischen gar keine Mindestreserve mehr, so dass nach dieser Theorie die Giralgeldmenge unendlich steigen müsste.

Moderne Zentralbanken steuern den Interbankenzins. Das Angebot der Reserven wird so angepasst, dass der Zinssatz auf dem Interbankenmarkt der Zielvorstellung entspricht. Aufgrund der nach wie vor irreführenden Darstellung des Geldschöpfungsprozesses in nahezu allen makroökonomischen Einführungslehrbüchern, begannen die Zentralbanken selbst mit verstärkter Transparenz und Kommunikation, den Geldschöpfungsprozess korrekt darzustellen. So wundert es auch nicht, dass sowohl die englische Zentralbank, die Bank of England (BoE), als auch die Bundesbank in Berichten zum monetären Transmissionsprozess einen mechanischen Zusammenhang zwischen Giralgeldmenge und Zentralbankgeld abstreiten und die Rolle der Geschäftsbanken bei der Schaffung von Giralgeld betonen: Den Monatsbericht der Bundesbank von April 2017 zu diesem Thema findet man hier, das BoE-Papier hier.2

„(…)rather than banks lending out deposits that are placed with them, the act of lending creates deposits – the reverse of the sequence typically described in textbooks.“
„Anstatt die von den Banken hinterlegten Einlagen auszuleihen, werden durch die Kreditvergabe Einlagen geschaffen – das Gegenteil von dem, was normalerweise in Lehrbüchern beschrieben wird.“ McLeay et al. (2014, S.2).

Kredite, Einlagen, Reserven und Bargeld: Ein einführendes Beispiel

Woran es liegt, dass der Geldschöpfungsmultiplikator nicht konstant ist und die Zentralbank die Geldbasis nicht kontrollieren kann, soll im Folgenden erklärt werden. Beginnen werden wir mit der Bedeutung von Reserven. Banken benötigen Reserven aus drei Gründen:

  • Kunden könnten ihr Geld abheben wollen, um Bargeld zu halten. Daher haben Banken i.d.R. eine gewisse Summe Bargeld in ihrer Filiale. Da Reserven jederzeit bei der Zentralbank in Bargeld umgetauscht werden können, lohnt es sich, zusätzlich einen gewissen Bestand Reserven zu halten, um plötzliche unerwartet hohe Bargeldwünsche der Kunden bedienen zu können.
  • Banken sind verpflichtet, eine Mindestreserve in Abhängigkeit ihrer Einlagen in Form von Zentralbankgeld zu halten. Dies soll verhindern, dass bei hohen Bargeldabflüssen ein Geldinstitut sofort in Liquiditätsengpässe gerät.
  • Banken benötigen Reserven für den Zahlungsausgleich mit anderen Geschäftsbanken. Bei der Überweisung von einer Bank zu einer anderen müssen im Prinzip auch Reserven in Höhe der Überweisung „mitgeliefert“ werden. Durch die Vielzahl von Überweisungen zwischen Banken wird zu Geschäftsschluss aber immer nur ein kleiner Teil der gesamten Überweisungssumme wirklich benötigt. Das System zwischen Zentralbanken und Geschäftsbanken gleicht einem „Clearing-House“, welches den Zahlungsverkehr zwischen den vielen verschiedenen Geschäftsbanken vereinfacht (mehr hierzu im nächsten Abschnitt).

Von diesen drei Gründen ist der erste quantitativ so unbedeutend, dass wir im Folgenden nur beiläufig auf ihn eingehen werden. In der Fundierung des Bankenmultiplikators spielt die Mindestreserve eine derart wichtige Rolle, dass man geneigt ist, zu glauben, dies sei das wichtigste Instrument der Zentralbank, um die Geschäftsbanken von einer übermäßigen Kreditvergabe abzuhalten. Schließlich kann eine Bank nur Kredite vergeben, sofern die Zentralbank ihr Reserven in ausreichender Höhe zur Verfügung stellt. Wie erklärt man sich dann aber, dass in einigen Ländern (Schweden, UK, Neuseeland) die Mindestreserve derzeit Null Prozent beträgt? Müssten Banken gemäß der Theorie des Geldmultiplikators dann nicht eine unendliche Kreditmenge schöpfen? Tatsächlich stellt die gesetzlich vorgeschriebene Eigenkapitalquote eine wirksamere Begrenzung der Kreditvergabe dar, auch wenn sie ebenfalls nicht als Allheilmittel angesehen werden kann. Die Mindestreserve hingegen ist von untergeordneter Bedeutung, da Banken sich jederzeit über Nacht Reserven von der Zentralbank leihen können, sofern sie über genügende Sicherheiten in Form von z.B. Wertpapieren verfügen. Der bedeutendste Grund dafür, dass Banken Reserven brauchen, ist der Zahlungsausgleich zwischen Banken im Interbankenmarkt.

Bevor wir auf die Details der geldpolitischen Operationen der Zentralbank zu sprechen kommen, soll zunächst veranschaulicht werden, wie Kredit, Einlagen, Reserven und Bargeld entstehen. Wir verzichten aus didaktischen Gründen auf die Berücksichtigung von Mindestreserven, Zinsen und allem anderen, was einem leichten Einstieg im Wege steht. Zudem verzichten wir auf eine Währungseinheit wie € oder $ in den Bilanzdarstellungen, um diese kompakt zu halten. Nehmen wir an, eine Bank will einen Kredit an ein Unternehmen vergeben. Hierzu schreibt die Bank dem Unternehmer die Kreditsumme von 100 € als Einlagen auf seinem Unternehmerkonto gut. Die Einlagen werden durch die Eingabe der Kreditsumme in die Bilanzen der Geschäftsbank aus dem Nichts geschaffen. Die Bilanzen von Bank und Unternehmen sehen dann wie folgt aus:

 \begin{tabular}{cc} \begin{tabular}[t]{p{2.9 cm}R{0.8cm}|p{2.9cm}R{0.8cm}} \multicolumn{4}{c}{\textbf{A}\hfill\textbf{Bank}\hfill\textbf{P}}\\ \hline Kredite (Unt.) & 100 &Einlagen &100 \end{tabular} {~~} \begin{tabular}[t]{p{2.9 cm}R{0.8cm}|p{2.9cm}R{0.8cm}} \multicolumn{4}{c}{\textbf{A}\hfill\textbf{Unternehmen}\hfill\textbf{P}}\\ \hline Einlagen &100 &Kredite (Bank) &100 \end{tabular} \end{tabular}

Eine seriös geführte Bank wird im Vorfeld natürlich die Kreditwürdigkeit des Unternehmens geprüft haben. Banken sind profitorientierte Unternehmen und erleiden Verluste, wenn Kredite nicht zurückgezahlt werden. Sie haben daher kein Interesse, Kredite im Überfluss zu schöpfen. Sollte das Unternehmen den Kredit verwenden, um eine Rechnung bei einer anderen Bank zu begleichen oder das Geld in Bar abheben, benötigt die Geschäftsbank Reserven, um diese Transaktionen durchzuführen. Nehmen wir an, das Unternehmen möchte die Hälfte der Sichteinlagen in Bar abheben. Sollte die Geschäftsbank nicht genügend Bargeld vorrätig haben, muss sie nun Reserven bei der Zentralbank in Bargeld umtauschen. In unserem Beispiel hat die Geschäftsbank aber zunächst gar keine Reserven, die sie in Bargeld umtauschen könnte. Sie muss also zunächst einen Kredit bei der Zentralbank aufnehmen. Nehmen wir an, die Bank leiht sich Reserven im Wert von 100  €, um einen Vorrat anzulegen:

\begin{tabular}{cc} \begin{tabular}[t]{p{2.9 cm}R{0.8cm}|p{2.9cm}R{0.8cm}} \multicolumn{4}{c}{\textbf{A}\hfill\textbf{Zentralbank}\hfill\textbf{P}}\\ \hline Kredite (Bank) & 100 & Reserven & 100 \end{tabular} {~~} \begin{tabular}[t]{p{2.9 cm}R{0.8cm}|p{2.9cm}R{0.8cm}} \multicolumn{4}{c}{\textbf{A}\hfill\textbf{Bank}\hfill\textbf{P}}\\ \hline Kredite (Unt.) & 100 &Einlagen &100\\ Reserven & 100 &Kredite (ZB) &100 \end{tabular} \end{tabular}

Um einen Kredit zu bekommen, muss die Geschäftsbank eine Sicherheit hinterlegen. Dies könnte in unserem Beispiel der Kredit an das Unternehmen sein, ein Wertpapier oder eine vergleichbare Forderung. Vergleichbar mit der Giralgeldschöpfung im Geschäftsbanksektor schafft die Zentralbank durch eine doppelte Buchung in ihren Bilanzen die notwendigen Reserven aus dem Nichts. Reserven sind daher eine rein virtuelle Größe. Die Banken halten zur Erfassung ihrer Reservenguthaben ein virtuelles Konto bei der Zentralbank. Die Reserven stellen quasi die Einlagen der Banken auf diesem Konto dar. Die Zentralbank ist somit die Bank der Geschäftbanken. Die Zentralbank vergibt einen Kredit, der aus ihrer Sicht eine Forderung gegen die Bank darstellt. Die Reserven, die sie der Bank dafür gutschreibt, stellen aus Sicht der Zentralbank Verbindlichkeiten dar. Die Bank kann die Reserven nämlich zur Begleichung ihres Kredites verwenden (oder in Bargeld ausbezahlen lassen). Aus Sicht der Bank ist es genau umgekehrt: Der Kredit ist eine Verbindlichkeit gegenüber der Zentralbank und die Reserven sind Guthaben in Form einer Forderung gegenüber der Zentralbank. Die Forderung besteht wiederum darin, dass die Bank die Reserven bei der Zentralbank zur Begleichung ihres Kredites verwenden (oder jederzeit in Bargeld umtauschen) kann.

Nehmen wir nun an, die Bank möchte einen Teil der Reserven in Bargeld tauschen. Hierzu wird ein spezialisiertes Transportunternehmen beauftragt, Bargeld von einer Zentralbankfiliale in die Geschäftsbank zu liefern. Gleichzeitig werden die Reservegutschriften auf dem Zentralbankkonto der Geschäftsbank um diesen Betrag vermindert.3 Da das Bargeld jederzeit auch wieder in Reserven umgetauscht werden kann, stellt es weiterhin aus Sicht der Bank eine Forderung und aus Sicht der Zentralbank eine Verbindlichkeit dar. Die Gesamtsumme auf der Passivseite der Zentralbank, die das gesamte Zentralbankgeld repräsentiert, setzt sich nun also aus den Reserven der Bank und dem vorhandenen Bargeld zusammen:

 \begin{tabular}{cc} \begin{tabular}[t]{p{2.9 cm}R{0.8cm}|p{2.9cm}R{0.8cm}} \multicolumn{4}{c}{\textbf{A}\hfill\textbf{Zentralbank}\hfill\textbf{P}}\\ \hline Kredite (Bank) & 100 & Reserven & 50\\ & & Bargeld & 50\\ \end{tabular} {~~} \begin{tabular}[t]{p{2.9 cm}R{0.8cm}|p{2.9cm}R{0.8cm}} \multicolumn{4}{c}{\textbf{A}\hfill\textbf{Bank}\hfill\textbf{P}}\\ \hline Kredite (Unt.) & 100 &Einlagen &100\\ Reserven & 50 &Kredite (ZB) &100\\ Bargeld & 50 && \end{tabular} \end{tabular}

Wenn in unserem Beispiel das Unternehmen seine Einlagen abhebt, werden die Einlagen in Bargeld umgetauscht. Aus Sicht des Unternehmens ist dies ein reiner Aktivtausch, weil sich lediglich die Zusammensetzung der Aktiva ändert. In der Bilanz der Bank kommt es durch die Abhebung zu einer Bilanzverkürzung, da sich sowohl die Forderungen als auch die Verbindlichkeiten verringern. Dies ist in den folgenden Bilanzen dargestellt:

\begin{tabular}{cc} \begin{tabular}[t]{p{2.9 cm}R{0.8cm}|p{2.9cm}R{0.8cm}} \multicolumn{4}{c}{\textbf{A}\hfill\textbf{Bank}\hfill\textbf{P}}\\ \hline Kredite (Unt.) & 100 &Einlagen &50\\ Reserven & 50 &Kredite (ZB) &100\\ \sout{Bargeld} & \sout{50} & & \end{tabular} {~~} \begin{tabular}[t]{p{2.9 cm}R{0.8cm}|p{2.9cm}R{0.8cm}} \multicolumn{4}{c}{\textbf{A}\hfill\textbf{Unternehmen}\hfill\textbf{P}}\\ \hline Einlagen &50 &Kredite &100\\ Bargeld & 50 & & \end{tabular} \end{tabular}

Nun hält das Unternehmen eine Forderung gegenüber der Zentralbank in Form von Bargeld. In Zeiten des Goldstandards bedeutete dies, dass man das Geld jederzeit zu einem festgelegten Kurs in Goldmünzen tauschen konnte. Da Geld inzwischen aber durch nichts mehr gedeckt ist, besteht die Forderung nur noch aus dem Versprechen, einen Geldschein im Wert von 100 € gegen einen Geldschein im Wert von 100 € zu tauschen. Da es sich beim Bargeld aber um das gesetzlich akzeptierte Zahlungsmittel handelt, kann man mit ihm Rechnungen für Waren und Dienstleistungen im entsprechendem Wert begleichen. Es handelt sich um einen Schuldschein der Zentralbank, den man im täglichen Zahlungsverkehr im Austausch gegen Waren und Dienstleistungen herumreichen kann.4

Sollte das Unternehmen das Bargeld wieder einzahlen, um einen Teil seines Kredites zu tilgen, werden zunächst seine Einlagen bei der Bank um 50 € steigen und bei der Rückzahlung vernichtet werden:

 \begin{tabular}{cc} \begin{tabular}[t]{p{2.9 cm}R{0.8cm}|p{2.9cm}R{0.8cm}} \multicolumn{4}{c}{\textbf{A}\hfill\textbf{Bank}\hfill\textbf{P}}\\ \hline Kredite (Unt.) & 50 &Einlagen &50\\ Reserven & 50 &Kredite (ZB) &100\\ Bargeld & 50 & & \\ \end{tabular} {~~} \begin{tabular}[t]{p{2.9 cm}R{0.8cm}|p{2.9cm}R{0.8cm}} \multicolumn{4}{c}{\textbf{A}\hfill\textbf{Unternehmen}\hfill\textbf{P}}\\ \hline Einlagen &50 &Kredite &50\\ \sout{Bargeld} & \sout{50} & & \end{tabular} \end{tabular}

So wie im Geschäftsbanksektor bei Rückzahlung des Kredites das Giralgeld (die Einlagen) wieder verschwindet, so verschwinden auch die Reserven bei Rückzahlung des Zentralbankkredites:

 \begin{tabular}{cc} \begin{tabular}[t]{p{2.9 cm}R{0.8cm}|p{2.9cm}R{0.8cm}} \multicolumn{4}{c}{\textbf{A}\hfill\textbf{Zentralbank}\hfill\textbf{P}}\\ \hline \sout{Kredite (Bank)} & \sout{100} & \sout{Reserven} & \sout{100} \end{tabular} {~~} \begin{tabular}[t]{p{2.9 cm}R{0.8cm}|p{2.9cm}R{0.8cm}} \multicolumn{4}{c}{\textbf{A}\hfill\textbf{Bank}\hfill\textbf{P}}\\ \hline Kredite (Unt.) & 50 &Einlagen &50\\ \sout{Reserven} & \sout{100} &\sout{Kredite (ZB)} &\sout{100} \end{tabular} \end{tabular}

Auch wenn es sich um ein sehr einfaches Beispiel handelt, so kann man bereits einige Eigenschaften kreditbasierter Geldsysteme klar erkennen: Kredite schaffen Einlagen und Kreditrückzahlung vernichtet Einlagen. Zudem ist eine Ersparnis für die Vergabe eines Kredites nicht notwendig. Die Einlagen werden bei der Kreditvergabe durch die doppelte Buchführung automatisch erzeugt. Auch bei Einführung einer Mindestreserve bräuchte die Bank im Vorfeld keine Ersparnisse privater Haushalte, sondern müsste sich ggf. im Nachhinein fehlende Reserven bei der Zentralbank borgen. Bei Vorlage ausreichender Sicherheiten wird eine Zentralbank diese immer zur Verfügung stellen, da andernfalls ein reibungsloser Zahlungsverkehr zwischen Banken nicht mehr gewährleistet wäre. Ob eine Sicherheit gut genug ist, hängt vom Rating der Ratingagenturen ab. Die Mindestanforderungen an das Rating sind während der Finanzkrise deutlich gesenkt worden, da andernfalls der gesamte Bankensektor nicht genügend Sicherheiten ausgewiesen hätte, um sich mit Liquidität zu versorgen.5 Da Banken Reserven für den Zahlungsausgleich mit anderen Banken benötigen, musste die EZB handeln, wenn sie nicht einen Zusammenbruch des gesamten Zahlungsverkehrs riskieren wollte. Diese Entscheidung ist dennoch bis heute umstritten, da einige Ökonomen befürchten, die EZB könnte hohe Verluste erleiden, wenn Banken ihre Kredite nicht zurückzahlen können und die Sicherheiten im Wert verlieren. Andere wiederum sind der Auffassung, dass dies in dieser besonderen Situation unvermeidbar gewesen wäre. Zudem könne eine Zentralbank auch mit einem negativen Saldo in der Bilanz fortbestehen. Schließlich sind Reserven rein virtuell und die Zentralbank ist nicht verpflichtet, den Saldo jemals auszugleichen.

Um keinen falschen Eindruck zu erwecken, soll an dieser Stelle deutlich darauf hingewiesen werden, dass Banken, die keine ausreichenden Sicherheiten mit genügend hoher Bonität vorweisen können, in Liquiditätsengpässe kommen können, da sie keine Reserven mehr bei der Zentralbank bekommen. Eine Zentralbank muss letztlich abwägen, ob eine Senkung der Mindestanforderungen notwendig erscheint, weil der gesamte Bankensektor ansonsten in Gefahr gerät. Sie wird dies aber nicht in Erwägung ziehen bei Liquiditätsproblemen einzelner Banken oder regionaler Bankenkrisen, die nicht das Finanzsystem als Ganzes gefährden. Daher sollte man nicht davon ausgehen, dass eine Bank in einem modernen Geldsystem niemals Pleite gehen könnte, weil ihr immer mit Reserven ausgeholfen wird. Sinkt die Eigenkapitalquote unter die gesetzlich vorgegebene Prozentzahl, weil ein großer Teil der Kredite nicht zurückbezahlt wird und deswegen die Aktivseite der Bankbilanz schrumpft, so muss die Finanzaufsicht die Zahlungsunfähigkeit feststellen. Dies war zum Beispiel am 31. Oktober 2009 bei der isländischen Kaupthing Bank der Fall.

Einführung in den Interbankenmarkt: Das „Clearing System“

Wenn ein Kunde einer Bank einem Kunden einer anderen Bank Geld überweist, dann verliert die eine Bank Einlagen, welche die andere bekommt. Zum Ausgleich der Bilanzen müssen entweder Reserven überwiesen werden oder die Banken gewähren sich gegenseitig einen Kredit. Für Überweisungen von Reserven im Interbankenmarkt besitzt jede Geschäftsbank ein Reservenkonto bei der Zentralbank (die Bankleitzahl ist die Kontonummer der Geschäftsbank bei der Zentralbank). So gesehen sind Reserven Guthaben der Geschäftsbanken auf ihren Konten bei der Zentralbank. Sie sind nichts weiter als Buchungssätze im System zwischen Zentralbank und Geschäftsbankensektor. Die überweisende Bank verzeichnet einen „Abfluss von Reserven“, was nichts weiter bedeutet, als dass die Gutschriften auf ihrem Zentralbankkonto vermindert werden. Die andere Bank verzeichnet einen „Zufluss von Reserven“, was wiederum nichts weiter bedeutet, als dass ihre Gutschriften bei der Zentralbank um den entsprechenden Betrag erhöht werden. Abfluss und Zufluss können den falschen Eindruck erwecken, dass ein physischer Austausch stattfinden würde. In Wirklichkeit werden in den Bilanzen lediglich ein paar Nummern geändert. Wir wollen uns dies an folgendem Beispiel verdeutlichen.

Gehen wir vereinfachend davon aus, dass 2 Kunden ihre Konten bei unterschiedlichen Banken führen, und dort Einlagen in Höhe von 100 bzw. 50 aufweisen. Des Weiteren haben die Banken in exakt gleicher Höhe Reserven auf ihrem Zentralbankkonto, die sie sich zuvor bei der Zentralbank geliehen haben. In der Ausgangssituation könnten die Konten von Kunde 1 und Kunde 2 bei ihren entsprechenden Banken sowie das Zentralbankkonto wie folgt aussehen:6

\begin{tabular}{p{6cm}R{1.5cm}|p{6cm}R{1.5cm}} \multicolumn{4}{c}{\textbf{A}\hfill\textbf{Zentralbank}\hfill\textbf{P}}\\ \hline Kredite an Bankensektor & 150 \euro& Reserven: &\\ && ~~- Reservenkonto Bank 1 & 100 \\ & & ~~- Reservenkonto Bank 2 & 50 \end{tabular} \\ {~} \\ {~} \\ \begin{tabular}{cc} \begin{tabular}[t]{p{2.9 cm}R{0.8cm}|p{2.9cm}R{0.8cm}} \multicolumn{4}{c}{\textbf{A}\hfill\textbf{Bank 1}\hfill\textbf{P}}\\ \hline Reserven & 100 & Einlagen K1& 100\\ Kredite (Unt.) & 100 & Kredite (ZB)& 100 \end{tabular} {~~} \begin{tabular}[t]{p{2.9 cm}R{0.8cm}|p{2.9cm}R{0.8cm}} \multicolumn{4}{c}{\textbf{A}\hfill\textbf{Kunde 1}\hfill\textbf{P}}\\ \hline Einlagen B1 & 100 & Nettovermögen & 100 \end{tabular} \\ {~} \\ {~} \\ \begin{tabular}[t]{p{2.9 cm}R{0.8cm}|p{2.9cm}R{0.8cm}} \multicolumn{4}{c}{\textbf{A}\hfill\textbf{Bank 2}\hfill\textbf{P}}\\ \hline Reserven & 50 & Einlagen K2 & 50\\ Kredite (Unt.) & 50 & Kredite (ZB)& 50 \end{tabular} {~~} \begin{tabular}[t]{p{2.9 cm}R{0.8cm}|p{2.9cm}R{0.8cm}} \multicolumn{4}{c}{\textbf{A}\hfill\textbf{Kunde 2}\hfill\textbf{P}}\\ \hline Einlagen B2 & 50 & Nettovermögen & 50 \end{tabular} \end{tabular}

Nun weist Kunde 1 seine Bank an, eine Überweisung von 50 auf das Konto von Kunde 2 bei Bank 2 zu tätigen. Es werden die Einlagen von Kunde 1 bei Bank 1 reduziert und die von Kunde 2 bei Bank 2 entsprechend erhöht. Damit die Bilanzen wieder ausgeglichen sind, werden auch die Reservenguthaben auf den Zentralbankkonten der Geschäftsbanken entsprechend geändert:

\begin{tabular}{p{6cm}R{1.5cm}|p{6cm}R{1.5cm}} \multicolumn{4}{c}{\textbf{A}\hfill\textbf{Zentralbank}\hfill\textbf{P}}\\ \hline Kredite an Bankensektor & 150 \euro& Reserven: &\\ && ~~- Reservenkonto Bank 1 & 50 \\ & & ~~- Reservenkonto Bank 2 & 100 \end{tabular} \\ {~} \\ {~} \\ \begin{tabular}{cc} \begin{tabular}[t]{p{2.9 cm}R{0.8cm}|p{2.9cm}R{0.8cm}} \multicolumn{4}{c}{\textbf{A}\hfill\textbf{Bank 1}\hfill\textbf{P}}\\ \hline Reserven & 50 & Einlagen K1& 50\\ Kredite (Unt.) & 100 & Kredite (ZB)& 100 \end{tabular} {~~} \begin{tabular}[t]{p{2.9 cm}R{0.8cm}|p{2.9cm}R{0.8cm}} \multicolumn{4}{c}{\textbf{A}\hfill\textbf{Kunde 1}\hfill\textbf{P}}\\ \hline Einlagen B1 & 50 & Nettovermögen & 50 \end{tabular} \\ {~} \\ {~} \\ \begin{tabular}[t]{p{2.9 cm}R{0.8cm}|p{2.9cm}R{0.8cm}} \multicolumn{4}{c}{\textbf{A}\hfill\textbf{Bank 2}\hfill\textbf{P}}\\ \hline Reserven & 100 & Einlagen K2 & 100\\ Kredite (Unt.) & 50 & Kredite (ZB)& 50 \end{tabular} {~~} \begin{tabular}[t]{p{2.9 cm}R{0.8cm}|p{2.9cm}R{0.8cm}} \multicolumn{4}{c}{\textbf{A}\hfill\textbf{Kunde 2}\hfill\textbf{P}}\\ \hline Einlagen B2 & 100 & Nettovermögen & 100 \end{tabular} \end{tabular}

Bank 1 hat in den Bilanzen immer noch einen Kredit der Zentralbank von 100 € stehen, hat aber nur noch 50 € auf ihrem Reservenkonto. Bei Bank 2 ist es umgekehrt. Während eines Geschäftstages werden zwischen unterschiedlichen Banken eine Vielzahl von Überweisungen in beide Richtungen getätigt. Würde man dies bilateral ausgleichen wollen, müsste man eine ebenso große Vielzahl von Umbuchungen auf den Reservekonten der Geschäftsbanken vornehmen. Um dies zu vereinfachen, werden in den Zentralbankkonten lediglich die Salden der Überweisungen umgebucht.

In Tabelle 4 ist dies anhand von 4 Banken dargestellt. Der Eintrag in der i-ten Zeile und j ten Spalte der Tabelle zeigt die Höhe der Überweisung von der Bank aus Zeile i an die Bank aus Spalte j. Bank 2 tätigt zum Beispiel Überweisungen in Höhe von 40 an Bank 3 und erhält Überweisungen in Höhe von 50 von Bank 3. Im Saldo verliert Bank 2 an diesem Geschäftstag Einlagen in Höhe von 15 (letzte Spalte). Die Gutschriften auf dem Reservekonto der Zentralbank werden dementsprechend um 15 vermindert. Für jede Bank ergibt sich so ein Saldo, der dann über das Reservenkonto bei der Zentralbank abgerechnet wird. Bei einem positiven Saldo erhält die Bank den Betrag in Form von zusätzlichen Reserven gutgeschrieben, bei einem negativen Saldo wird der entsprechende Betrag abgezogen. Ohne ein solches Abwicklungskonto müssten alle Banken ihre bilateralen Salden untereinander durch Überweisung von Reserven ausgleichen. Insgesamt wurden in dem Beispiel Überweisungen im Wert von 320 € getätigt, aber nur Reserven im Wert von 30 € umgebucht.

Tabelle 4: Berechnung des Clearing Saldos zwischen 4 Geschäftsbanken

 \begin{tabular}{C{1.8cm}|C{1.8cm}C{1.8cm}C{1.8cm}C{1.8cm}|C{1.8cm}|C{1.8cm}} \addlinespace \toprule ~ & \textbf{Bank 1} & \textbf{Bank 2} & \textbf{Bank 3} & \textbf{Bank 4} & $\sum$ & \textbf{Saldo} \\ \midrule \textbf{Bank 1} & & 15 & 20 & 20 & 55 & 5 \\ \textbf{Bank 2} & 30 & & 40 & 35 & 105 & -15 \\ \textbf{Bank 3} & 20 & 50 & & 30 & 100 & -15 \\ \textbf{Bank 4} & 10 & 25 & 25 & & 60 & 25 \\ \midrule $\sum$ \unboldmath{} & 60 & 90 & 85 & 85 & 320 & 0 \\ \bottomrule \multicolumn{7}{L{16cm}}{\footnotesize{\textbf{Erklärung:} Der Eintrag in der $i-$ten Zeile und $j-$ ten Spalte der Tabelle zeigt die Höhe der Überweisung von der Bank aus Zeile $i$ an die Bank aus Spalte $j$. Bank 2 tätigt zum Beispiel Überweisungen in Höhe von 30 an Bank 1 und erhält Überweisungen in Höhe von 15 von Bank 1.}} \end{tabular}

Quelle: Lavoie (2014).

Wir können der Tabelle entnehmen, dass sich die Summe der Salden immer zu Null addieren muss: Der Nettoabfluss einer Bank entspricht in der Summe immer dem Nettozufluss aller anderen Banken. Dies bedeutet nicht, dass diese Überweisungen immer problemlos durchgeführt werden können. Hat Bank 2 beispielsweise keine Reserven in Höhe von 15 auf ihrem Reservenkonto bei der Zentralbank, so muss sie sich die notwendigen Reserven borgen.

Sollte eine Bank nicht genügend Reserven besitzen, um bei Geschäftsschluss einen negativen Saldo auszugleichen, kann sie sich neue Reserven über Nacht von der Zentralbank oder auf dem Interbankenmarkt von einer der Banken mit positiven Saldo leihen. Solche Kredite werden mit einer Laufzeit von wenigen Tagen bis wenigen Monaten vergeben. Aber könnte eine Geschäftsbank nicht einfach einen Kredit schöpfen, um ihre Schuld gegenüber der Zentralbank zu tilgen? Nein. Hier kommt die Trennung zwischen Inside und Outside Money, also Reserven und Giralgeld, zum Tragen. Die Zentralbank akzeptiert zur Bezahlung der Reserveschuld nur das von ihr selbst geschaffene Zentralbankgeld. Geschäftsbanken können aber nur Buchgeld schöpfen und keine Reserven.

Nehmen wir zum Beispiel an, Bank 2 hat gar keine Reserveguthaben mehr. Es gibt nun 2 Möglichkeiten, dieses Problem zu lösen:

    • Die Bank leiht sich zusätzliche Reserven von der Zentralbank. Hierzu wird von der Zentralbank ein Kredit vergeben und ein Zins verlangt.
    • Bank 2 könnte von einer Bank mit positiven Saldo (z.B. Bank 4) einen Kredit in Höhe von 15 aufnehmen. Die Zahlung der Reserven im Zusammenhang mit den Überweisungen von Bank 2 an Bank 4 würde dann in Höhe von 15 aufgeschoben werden. Statt zusätzlicher Reserven über einen Kredit bei der ZB entsteht ein Kredit gegenüber Bank 4. Der Saldo von Bank 2 wäre dann ausgeglichen. Sie leiht sich in diesem Fall die fehlenden Reserven von Bank 4 statt von der Zentralbank.

Bei der zweiten Möglichkeit würde Bank 4 natürlich ebenfalls einen Zins verlangen. Dies ist der sogenannte Interbankenzins, zu dem sich Banken untereinander Kredite geben. Im Normalfall wird dies ganz automatisch gemacht. Bevor es zu Umbuchungen auf den Zentralbankkonten kommt, wird zunächst ein Kredit gewährt, damit die Überweisung durchgeführt werden kann. Da zwischen den Geschäftsbanken tagtäglich sehr viele Überweisungen getätigt werden, wird i.d.R. ein Kreditrahmen festgelegt, innerhalb dessen ausstehende Kredite mit dem Interbankenzins verzinst werden.

In dem hier gewählten Beispiel führt die Kreditgewährung zwischen den Banken dazu, dass eine Umbuchung der Reserven nicht mehr stattfindet. Die Reserveguthaben von Bank 2 werden also nicht verändert. Die Kreditvergabe führt implizit dazu, dass eine Bank der anderen Reserven gegen einen Zins leiht. Langfristig werden die Banken sich auf dem Interbankenmarkt Liquidität von anderen Banken oder Fonds etc. besorgen und ggf. längerfristige Kreditbeziehungen eingehen.

Durch Festlegung des Zinses, zu dem man bei der Zentralbank Reserven leihen kann, nimmt die Zentralbank Einfluss auf den Interbankenzins. Keine Bank würde zum Beispiel einen Kredit von einer anderen Bank aufnehmen, wenn sie sich zu einem günstigeren Zins bei der Zentralbank verschulden kann. Umgekehrt würde sich niemand Reserven bei der Zentralbank leihen, wenn der Zins hierfür über dem Zins für Kredite im Interbankenmarkt liegt. Wie die Zentralbank dies im Detail bewerkstelligt und welche Instrumente sie benutzt, um den Zins im Interbankenmarkt zu steuern, wird der nun folgende Abschnitt tiefer behandeln.

MERKE
  • Wenn sich der Privatsektor bei einer Bank verschuldet, entsteht Giralgeld. Es wird vernichtet, wenn der Privatsektor einen Bankkredit zurückzahlt.
  • Auf dem Interbankenmarkt können sich Geschäftsbanken (und institutionelle Anleger) kurzfristig gegenseitig Reserven leihen.
  • Durch das „Clearing“ auf dem Interbankenmarkt müssen lediglich die mulitlateralen Salden ausgeglichen werden und nicht jeder bilaterale Saldo.
  • Banken können sich auch gegenseitig Kredit gewähren, um die Überweisung von Reserven zu umgehen.
Übungsaufgaben/Quizzes

Literatur

BAGEHOT, W. (1898). Lombard Street: A Description of the Money Market, London: Henry S. King & Co.
BINDSEIL, U. (2014). Monetary Policy Operations and the Financial System, Oxford University Press.
EHNTS, D. (2016). Geld und Kredit – eine €-päische Perspektive, Metropolis, 2nd ed.
KALDOR, N. (1970). “The new monetarism,” Lloyds Bank Review, 1–17.
KALDOR, N. (1982). The Scourge of Monetarism, Oxford: Oxford University Press.
LAVOIE, M. (2014). Post-Keynesian Economics – New Foundations, Edward Elgar Publishing.
MCLEAY, M., A. RADIA, UND R. THOMAS (2014). “Money creation in the modern economy,” Bank of England Quarterly Bulletin, 54, 14–27.
MOORE, B. (1988). Horizontalists and Verticalists: The Macroeconomics of Credit Money, Cambridge University Press.
THORNTON, H. (1802). An Enquiry Into the Nature and Effects of the Paper Credit of Great Britain, J. Hatchard.
WICKSELL, K. (1898). Geldzins und Güterpreise: Eine Studie über die den Tauschwert des Geldes bestimmenden Ursachen, Jena: Fischer.
WERNER, R. A. (2014). “Can banks individually create money out of nothing? – The theories and the empirical evidence,” International Review of Financial Analysis, 36, 1–19.